Istanbul Post

Kurzmeldungen: Alle Kurzmeldungen

Die Woche vom 15. bis zum 22. September 2023

Staatspräsident Erdoğan nutzte die UN Generalversammlung in New York zu einer Reihe von Gesprächen. Offenkundige Ergebnisse gab es nicht, sein Versuch zwischen Aserbaidschan und Armenien zu vermitteln, blieb ohne Erfolg. Die Zentralbank hat die Zinsen um fünf Prozentpunkte angehoben und entsprach damit den Erwartungen der Finanzwelt. Wer heute noch knapp seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, wird bange auf den Winter sehen.

Verwirrende Iyi Partei

In der vergangenen Woche hatte der Parteirat der Iyi Partei beschlossen, in allen 81 Provinzen der Türkei mit eigenen Kandidaten bei der Kommunalwahl anzutreten. Am 21. September 2023 erklärte ein Mitglied des Parteirates der Iyi Partei, dass noch nicht abschließend darüber entschieden sei, ob seine Partei einen Gegenkandidaten gegen die amtierenden Oberbürgermeister von Ankara und Istanbul aufstellen werde. Da nun beide Metropolen zu den 81 Provinzen zählen scheint doch ein wenig Unklarheit in der Partei zu herrschen. Das Hin und Her der Erklärungen schadet wohl nicht nur der Iyi Partei, sondern wohl der ganzen Opposition.

Wenn Europa nicht immer ein Vorbild ist

Der Staatspräsident hat als neues lösenswertes Problem die Straßentiere, d.h. die Straßenhunde entdeckt. Mal ist die Rede davon, dass in Wäldern Unterkünfte für Hunde ohne Besitzer geschaffen werden sollen. Dann wieder will man fördern, dass Hunde ohne Besitzer adoptiert werden. Während diese Vorschläge immer mal wieder durch die Medien gehen, arbeiten im Hintergrund Ministerien an Umsetzungsplänen. Wie diese schließlich aussehen werden, bleibt offen. Doch der Verweis auf „Europa“ wirkt nicht unbedingt überzeugend.

Wenn ich mich mit älteren Leuten in Istanbul über Straßenhunde unterhalte, erklären sie oft, dass es diese früher kaum gegeben hat. Es ist nachvollziehbar. Die Haltung in breiten Bevölkerungsteilen gegenüber diesen Mitgeschöpfen hat sich verändert. Selbst in den Dörfern von Istanbul ist es inzwischen verbreitet, auch für streunende Hunde Futter auszulegen. Dasselbe gilt für Katzen, die weniger problematisiert werden, obgleich sie sich mit mindestens der gleichen Geschwindigkeit vermehren.

Ein anderer Grund ist, dass sich das Stadtleben verändert hat. Die überschaubaren Siedlungen von Istanbul sind mit dem schnellen Wachstum vielerorts zu anonymen Wohnorten verkommen. Anonymität senkt auch die soziale Kontrolle. Dies führt zwar auch zu Freiheit, aber auch zu deren Missbrauch. Während man sich in der Vergangenheit vor dem Getratsche der Nachbarn gefürchtet hätte, wenn man ein Haustier vernachlässigt, ist es heute kein Problem, es irgendwo auszusetzen.

Die Lösung wurde mit Blick auf Europa gefunden. Wer ein Tier besitzt, muss es mit einem Mikrochip versehen lassen. Es ist dann registriert und wenn es ausgesetzt wird, ist der Besitzer feststellbar. Nur ist Istanbul nicht Europa. Der Übergang vom Straßentier zum Haustier ist fließen. Dort, wo intakte Nachbarschaften bestehen, sind Straßentiere in die Siedlung integriert. Zwar ist dies nicht immer konfliktfrei, trägt aber sowohl den Interessen von Menschen wie Tieren Rechnung.

In vielen Teilen Europas – so auch in Deutschland – werden Hunde oder Katzen ohne Besitzer nicht in den Straßen geduldet. Besitzer wiederum heißt, dass ihr Bewegungsspielraum auf ein Minimum beschränkt wird. Wie artgerecht dies ist, bleibt eine Diskussion für sich. Die Interaktion mit Tieren wird auf die mit ihren Besitzern beschränkt. Bei dieser allein auf den Menschen und seine „Sicherheit“ ausgerichteten Betrachtungsweise verlieren Menschen zugleich die Begegnung mit anderen Wesen, mit denen sie über Jahrtausende zusammengelebt haben und die Teil ihrer Kultur sind. Schlimmer noch ist es für die Tiere, die sich in den Jahrtausenden des Zusammenlebens auf dieses Zusammenleben eingestellt haben.

Man kann zwar nicht von einem türkischen Modell für Europa sprechen. Dazu gibt es zu viele Abscheulichkeiten wie die Abschiebung von Tieren in Lebensräume, in denen sie erbärmlich verrecken. Doch die Integration von Straßentieren in vielen Istanbuler Stadtquartieren hat durchaus Vorzeigecharakter.

Bleibt natürlich noch die Frage offen, warum der Staatspräsident nicht in Fragen Menschenrechten, sondern bei Tierrechten Europa zum Vorbild nimmt. Eigentlich eine rhetorische Frage: Es geht jedes Mal um ein Maximum an Kontrolle. Und über die Straßentiere kann man auch die Kontrolle über die Menschen verschärfen.

Migranten als Sicherheitsproblem

Es gehört zu den Besonderheiten der Türkei, dass es nicht die Regierungspartei und die Rechte ist, die Zuwanderer als „Sicherheitsproblem“ betrachten. Natürlich können sie eines sein. Aber ist jeder Fremder ein Risiko? Zu den Erfolgen der CHP gehört es, den Unmut der Bevölkerung gegen ausländische Nachbarn, der unter den schlechteren Lebensbedingungen verfehlter Regierungspolitik gestiegen ist, salonfähig und zu einem zentralen politischen Thema zu machen.

Zuletzt weist der CHP-Spitzenpolitiker Gürsel Tekin darauf hin, dass in 39 Stadtbezirken Istanbuls in 54 Siedlungen von zehn Stadtbezirken der Ausländeranteil an der Bevölkerung bei 20 Prozent liegt. Das sei ein ernstes Sicherheitsproblem.

Früher Dorf, heute Siedlung, ist der Ort in dem ich lebe, einer mit einer bedeutenden ausländischen Wohnbevölkerung. So wenig wie ich mich als Sicherheitsrisiko für meine Nachbarn betrachte, habe ich den Eindruck, dass diese mich als solches betrachten. Die von der Ausländerbehörde eingeführte Quote von maximal 20 Prozent Ausländern an der Wohnbevölkerung machte Sinn, wenn es ein Konzept für eine Integrationspolitik gäbe. Hier geht es jedoch darum, Befürchtungen zu kanalisieren. Dass ein Spitzenpolitiker einer sich als „sozialdemokratisch“ verstehenden Partei zum Helfershelfer einer solchen Politik oder gar zur Speerspitze macht, deutet auf einigen Diskussionsbedarf hin.

Versuche, Ausländer als Ursache für die extrem Mietpreissteigerungen und die Verknappung des Wohnraums hinzustellen, beziehen ihre Schlüssigkeit aus Verallgemeinerungen. Der größte Teil der registrierten und der irregulären Migranten in der Türkei dürfte über keinen eigenen Wohnraum verfügen. Bei den irregulären Migranten dagegen liegt eine Opfersituation vor, denn sie zahlen in der Regel höhere Mieten bei gleichzeitig geringeren Löhnen.

Gürsel Tekin erklärt, dass im Istanbuler Stadtbezirk Fatih Flüchtlinge aus 20-25 Ländern leben und dies ein Sicherheitsproblem darstellt. Hängt die Bedrohungslage von der Anzahl der Herkunftsländer ab? Oder von der Zahl der Flüchtlinge? Und spricht er von Flüchtlingen oder irregulären Migranten? Denn der Flüchtlingsstatus ist in der Türkei nur schwer zu erlangen. Oder meint er die geduldeten Syrer? Die zum Teil seit Jahren in der Türkei leben und deren Beziehung zur alten Heimat im alltäglichen Überlebenskampf in den Hintergrund tritt.

In drei Stadtbezirken Istanbuls arbeiten im Textilsektor nach Auskunft von Gürsel Tekin überwiegend Flüchtlinge. Weiter sagt er „Überall wo sich die Flüchtlinge häufen, wo Angehörige verschiedener Völker zusammenleben, gibt es viele Probleme.“ Fremdheit als Problem würde im deutschen Koordinatensystem als rechtsextrem und fremdenfeindlich verortet. Dies hat auch gute Gründe. Auf der einen Seite werden die irregulären Migranten ausgebeutet. Auf der anderen Seite gibt die niedrige Produktivität vieler Betriebe nicht ausreichend her, um im regulären Bereich der Arbeitswelt zu überleben. Dies wird von Politikern der Regierungspartei wenigstens zugegeben. Statt auf Fremdheit abzustellen, wäre es wohl vernünftiger, zum einen die Moral der Abnehmermärkte in Europa einzufordern und auf fair traid Regeln zu setzen. Zum anderen wäre es an der Zeit, eine Strategie zu entwickeln, die die Bekämpfung der Schattenwirtschaft nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Maximierung der Steuereinnahmen, sondern als Strukturproblem zu betrachtet.

Dass Tekin seine Ausführungen damit beendet, dass Istanbul viele Probleme habe, aber keine Lösungen, ist vermutlich an die Adresse der Regierung gerichtet. Das Konzept der Großstadtverwaltung – dies muss man der Gerechtigkeit halber sagen – geht da weiter. Sie betrachtet Migration als kommunalpolitisches Aufgabenfeld, in dem Konzepte entwickelt werden müssen.

Wieder eine Zinserhöhung

Mit einer Erhöhung des Leitzinses um fünf Prozentpunkte auf 30 Prozent entsprach die Zentralbank den Markterwartungen. Angesichts einer Inflationserwartung von 33 Prozent Ende 2024 wird davon ausgegangen, dass die Zinserhöhungen in den kommenden Monaten fortgesetzt werden und zum Jahreswechsel ein Niveau von 40 Prozent erreicht werden könnte.

Bei der Inflation wird bis Mitte kommenden Jahres mit einem weiteren Anstieg gerechnet. Die Zentralbank rechnet mit 62 Prozent zum Jahreswechsel. Gleichwohl gehen viele Ökonomen davon aus, dass dieser Wert überschritten und eine Höhe von bis zu 70 Prozent erreicht werden könnte. Zugleich merken sie an, dass größere Schritte bei der Zinserhöhung wirksamer wären, um die Inflationserwartung in der Bevölkerung zu brechen.

Mit der Zinserhöhung steigen automatisch die Kreditkartenzinsen. Das Zinsniveau bei Verbraucherkrediten liegt bei 60 Prozent. Die Ankündigung von Finanzminister Şimşek, dass Lohnerhöhungen sich nicht an der Inflation, sondern den Inflationszielen orientieren müssen, bedeutet, dass abhängig Beschäftigte sich auf einen weiteren Rückgang ihrer Kaufkraft gefasst machen müssen. Für diejenigen, die bisher ohnehin nur durch Kredite über die Runden kamen, die durch neue Kredite abgelöst werden, bedeutet dies in den meisten Fällen die Zahlungsunfähigkeit.

Rückläufige Kaufkraft bedeutet niedrigere Binnennachfrage. Doch auch das Exportgeschäft steckt in Schwierigkeiten, weil auch in den wichtigsten Zielländern die Wirtschaft stagniert. Auch wenn das mittelfristige Wirtschaftsprogramm der Regierung ein Wachstum von 4 Prozent für das kommende Jahr vorsieht, kann die reale Entwicklung dahinter zurückbleiben. Eine Folge dürfte eine steigende Arbeitslosigkeit bzw. ein Rückgang der Erwerbsbeteiligung sein.

Ob es eine Alternative zu diesen Entwicklungen gibt? Plausible Gegenentwürfe gibt es nicht. Nur im Hinblick auf die Umsetzung gibt es Forderungen, die Lasten gerechter zu verteilen. In den letzten Jahren sind die Gewinne vieler Unternehmen regelrecht explodiert. Die Wertsteigerung von Immobilien lässt sich wohl nur mit dem Erlös von Rauschgiftgeschäften vergleichen. Demgegenüber werden vier Mindestlöhne benötigt, um auch nur die Armutsgrenze zu erreichen. Die Mindestrente genügt nicht, um in Istanbul eine Wohnungsmiete zu bezahlen.